Prof. Dr. Volker Großkopf, Rechtsanwalt, Dr. med. dent. Alexander Spassov Fachzahnarzt für Kieferorthopädie/Orthodontist

Im Jahr 2018 teilte der Bundesrechnungshof (BRH) dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) seine Kritik an der intransparenten Datenlage zur kieferorthopädischen Versorgung in Deutschland mit. Er bemängelte, dass es in Deutschland ungenügende Daten über Durchführung, Wirksamkeit und Nutzen der kieferorthopädischen Versorgung – und damit letztlich zu ihrer Wirtschaftlichkeit – gebe. Und dies, obwohl ein Großteil der kieferorthopädischen Versorgung auf Kosten der Solidargemeinschaft durchgeführt wird.

Das Bundesministerium hat diese Auffassung des Bundesrechnungshofes geteilt, sowie bestätigt, dass Versicherte, bzw. ihre Sorgeberechtigten, eine evidenzbasierte Beratung und eine zuverlässige und neutrale Informationsgrundlage benötigen, um sich für oder gegen eine zusätzliche Leistung über die Standardversorgung hinaus entscheiden zu können. Vor allem ist hier problematisch, dass die Standardversorgung in der vertragszahnärztlichen Kieferorthopädie nicht konkret definiert worden ist, um eine möglichst große Entscheidungs- und Therapiefreiheit für Patient und Arzt zu ermöglichen. Allerdings wurde eben diese Freiheit einseitig von Zahnärzten mit sog. Privaten Zuzahlungen ausgehebelt, vor allem durch eine negative und falsche Darstellung der sog. „Kassenleistung“ (BRH 2018, Braun und Spassov 2021). Nun soll das Terminsservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) bzw. die Umsetzung des § 29 SGB V, Absatz 6 eine Formalisierung und rechtliche Absicherung dieser privaten Zuzahlungen ermöglichen – im Bewertungsausschuss. Was hier als mehr Therapiefreiheit seitens der Zahnärzte an die Politik verkauft wird, ist in Wahrheit eine maskierte Kürzung des Leistungskataloges Kieferorthopädie zur Gewinnmaximierung der Leistungserbringer. Davon profitieren zudem die Krankenkassen, indem sie Zusatzversicherungen für eben diese, letztendlich unnötigen und sozialrechtlich nicht vorgesehenen privaten Zusatzleistungen anbieten.

Transparente und qualitativ bessere Versorgung gefordert

Zu einer guten Beratung und einer zuverlässigen Informationsgrundlage gehört auch die Aufklärung über Behandlungsalternativen nach evidenzbasierten Standards, wie sie die AWMF bereits vorgestellt hat (AWMF 2017). Rechtliche, praktische und ethische Grundlage hierfür liefert das Patientenrechtegesetz nach § 630e BGB. Es wurden aber bis heute keine Aktivitäten unternommen, um die kieferorthopädische Versorgung sowohl transparenter zu machen als auch Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung zu initiieren. So kritisierte der Spiegel 2019, dass das Gesundheitsministerium sich trotz erdrückender Hinweise auf Überversorgung in der Kieferorthopädie vor einer Transparenzinitiative „drückt“ (Der Spiegel, 8. Mai 2019). Angemahnt wurde lediglich zum einen eine „Wissenschaftlich basierte nationale oder internationale klinische Leitlinie“ oder Standards für einen „optimalen“ oder „idealen“ Behandlungsbeginn je Befund, welche 2021 veröffentlicht wurde. Zum anderen wurde entschieden, dass die Fachgesellschaften kieferorthopädische Befunde in die Deutsche Mundgesundheitsstudie V (DMS-V) aufnehmen, und dass der GKV-Spitzenverband Abrechnungsroutinedaten retrospektiv auswerten und zur Verfügung stellen soll.

Während die DMS-V bereits begann, und auf die Abrechnungsdatenanalyse des GKV-Spitzenverbands weiterhin gehofft werden darf, veröffentlichte die Handelskrankenkasse (Hkk) eine Nachfolgestudie zur Qualität der kieferorthopädischen Versorgung in Deutschland (Braun 2012; Braun und Spassov 2022). Diese Studie bestätigte erneut eindrucksvoll die Hinweise auf gravierende Qualitätsmängel aber auch das Phänomen „Selbstzahler“ in der vertragszahnärztlichen Kieferorthopädie. Zwei Ergebnisse sollen dies verdeutlichen: zum einen spielten die ästhetischen Gründe die mit Abstand wichtigste Rolle zu Beginn einer Behandlung, obwohl nach geltenden Richtlinien zur kieferorthopädischen Behandlung „Maßnahmen, die lediglich kosmetischen Zwecken dienen, … nicht zur vertragszahnärztlichen Versorgung“ gehören (RL-KFO, 2004). Zum zweiten sind die privaten Zuzahlungen bzw. Leistungen der „Selbstzahler“ stark im Vergleich zur Vorstudie gestiegen, obwohl die Leistungen, für welche private Zuzahlungen gefordert werden, keinen nachweislichen Zusatznutzen besitzen (siehe Braun und Spassov A, 2022, Seite 46). Dieses Ergebnis ist umso schwerwiegender, als der Verdacht einer „Doppelabrechnung“ bestimmter Leistungen wie „Brackets“ oder „Bögen“ besteht, welche ausdrücklich Kassenleistung sind (BEMA-Z, Seite 62) jedoch ebenfalls „privat“ über die analoge GOZ-Abrechnungsnummer abgerechnet werden. Ein und dieselbe Leistung wird zweifach abgerechnet, sowohl Kassen als auch die privaten Haushalte werden gleichzeitig belastet und das Prinzip der GKV wird unterhöhlt. Für eine ausführliche Darstellung siehe Braun und Spassov 2022, Hkk-Gesundheitsreport 2021.

Die aktuelle Datenlage

Schon 2000/2001 schreibt der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Gutachten zur Bedarfsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit zum Thema Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Kieferorthopädie: „Die Aufwendungen für Kieferorthopädie nahmen 1997 einen Anteil von ca. 7,5 % an den Ausgaben für zahnmedizinische Versorgung ein. Die Aufwendungen für Kieferorthopädie wiesen im letzten Jahrzehnt höhere Wachstumsraten auf als die Ausgaben für konservierend-chirurgische Maßnahmen.“

Die Ausgaben der GKV für kieferorthopädische Leistungen fallen fast ausschließlich für Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 16 Jahren an und erreichen ihren Gipfel bei Kindern im Alter von 12 bis 13 Jahren. In Deutschland werden derzeit etwa zwei Drittel der 12- bis 13-Jährigen kieferorthopädisch behandelt, wobei dieser Anteil in den letzten Jahren wieder zunahm. Da der Rückgang des Kariesbefalls an Milchzähnen zu einer Senkung der Neuerkrankungsrate an Gebissanomalien führt, bieten sich als Erklärungshypothesen für diese Entwicklung die angebotsinduzierte Nachfrage und/oder ein Anstieg der sozialen Norm an. Weiter heißt es „Die Tatsache, dass nach einer Studie 1989 in den alten Bundesländern nur 3 % der 13- bis 14-Jährigen ein ideales Gebiss aufwiesen, deutet auf den weiten Ermessensspielraum für eine medizinische Behandlungsbedürftigkeit in der Kieferorthopädie. Es gab lange Zeit keinen allseits akzeptierten Index, der valide, reproduzierbar und leicht erhebbar eine kieferorthopädische Behandlungsbedürftigkeit anzeigt. Nach dem Index of Orthodontic Treatment Need (IOTN) liegt die Behandlungsbedürftigkeit von Jugendlichen je nach Berücksichtigung eines mäßigen Behandlungsbedarfs zwischen 25 % und 45 %. Der von der WHO empfohlene Dental Aesthetic Index (DAI) weist mit 12,5 % bis 35 % ein noch niedrigeres Behandlungsspektrum auf. Selbst der höchste dieser Werte von 45 % unterschreitet die Behandlungsrate in der GKV von 63 % noch um über ein Drittel. Auch der subjektive Behandlungswunsch der Jugendlichen liegt mit ca. 15 % bis 25 % um über die Hälfte niedriger als die vom Untersucher eingeschätzte Behandlungsnotwendigkeit.“ Der Sachverständigenrat empfiehlt daher „Diese Aspekte sprechen für eine Objektivierung der Befunderhebung an Hand des IOTN oder des DAI und eine verbindlichere Gestaltung des Gutachterwesens.“

2008 erschien dann ein Health Technology Assessment (HTA)-Bericht des Deutschen Instituts für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) mit dem Titel „Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaten“. Er kam zu folgendem Ergebnis: „Die Frage, ob sich durch die Anwendung von festsitzenden Apparaten im Rahmen einer kieferorthopädischen Maßnahme eine langfristige Verbesserung des Mundgesundheitszustands ergibt, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden. Der wissenschaftliche Sachstand beschäftigt sich zurzeit mit der Definition von Mundgesundheit. Selbst die Frage, ob die Zahngesundheit durch festsitzende Apparate langfristig verbessert werden kann, ist nicht auf der Basis der für die evidenzbasierte Medizin üblichen Qualitätsgüte bewertbar.“ Weiter heißt es: „Die Frage der Indikationsstellungen ist aus der wissenschaftlichen Literatur völlig offen. Zwar wurden einige Indizes entwickelt, die der Frage der Therapiebedürftigkeit oder der -priorität eine Quantifizierung verleihen, diese Indizes werden aber in ihrer Aussagekraft und empirischen Relevanz durch jüngere Forschungsarbeiten fundamental in Frage gestellt.“

Hinweise auf Überdiagnostik in der Kieferorthopädie

In dem 2019 erschienen Gutachten des Institutes für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) für das Bundesministerium für Gesundheit mit dem Titel „Kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen“ heißt es: „Auf die Kieferorthopädie entfielen im Jahr 2016 etwa 1.103 Mrd. € (knapp 8 %) der Gesamtausgaben für zahnmedizinische Behandlungen in Höhe von 13.793 Mrd. €. In der Zusammenfassung heißt es: „Mit Blick auf die kieferorthopädische Diagnostik wurden die fünf am häufigsten in Deutschland abgerechneten Interventionen untersucht. Dabei handelte es sich um bildgebende Untersuchungen (Fotografie, Panoramaschichtaufnahme, Fernröntgenaufnahme), deren Auswertung (Kephalometrie) sowie Modellabformungen. Diese dienen der Bestimmung des Ausmaßes der Zahnfehlstellung und sind maßgeblicher Bestandteil der Ableitung notwendiger Behandlungsmaßnahmen. Ausgewertet wurden neun Studien, die die Bedeutung der genannten Untersuchungen auf die Behandlungsplanung untersuchten. Diese Studien waren sowohl im Hinblick auf die evaluierten Methoden als auch die Studiendurchführung äußerst heterogen. Aufgrund dessen können im vorliegenden Gutachten keine Empfehlungen für oder gegen die Anwendung einzelner diagnostischer Maßnahmen ausgesprochen werden.

Auch im auf Abrechnungsdaten basierenden Gesundheitsreport 2018 bzw. 2020 (Braun und Spassov 2018; 2020) zur Kieferorthopädischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen wird die Häufigkeit von Röntgenaufnahmen in der kieferorthopädischen Diagnostik kritisiert (Tab. 1). So wurden Panoramaschichtaufnahmen (BEMA Ä935d) bei 93,3 % (2.723 Personen) der Kinder durchgeführt, bei 507 Kindern sogar je zwei Aufnahmen, bei 54 Kindern 3 Aufnahmen und bei 4 Kindern 4 Aufnahmen. Ein Fernröntgenseitenbild (BEMA Ä934a) wurde bei 89,9 % (2.361 Kinder) durchgeführt. Bei 77 Kindern davon waren es zwei Aufnahmen. In Anbetracht dessen, dass diagnostische Studien zeigen, dass Röntgenaufnahmen wie Panoramaschicht- oder Fernröntgenaufnahmen in den meisten Fällen für die Diagnostik und Planung nicht notwendig sind (für eine ausführlich Darstellung siehe Braun und Spassov, Hkk-Gesundheitsreport  2018), besteht hier ein dringender Verdacht auf Überdiagnostik. Sollte sich dieser weiter erhärten, müssten Schritte folgen, um diese Überdiagnostik abzubauen, damit Schaden von Patienten (Krebsrisiko durch Rö-Strahlen) und von der Gesellschaft (Verschwendung finanzieller Mittel) abgewendet wird.

Dieser überproportionale Einsatz von Röntgendiagnostik wird auch in anderen Ländern kritisiert. In Schweden ergab eine Umfrage unter Fachärzten für Kieferorthopädie, dass Röntgenuntersuchungen in allen Behandlungsphasen und hauptsächlich während der Behandlungsplanung durchgeführt werden (Stervik, 2021). Panoramaröntgenaufnahmen waren auch hier die häufigsten Untersuchungen. Die Mehrheit der Befragten war der Ansicht, dass Röntgenbefunde häufig oder gelegentlich die Behandlung beeinflussen. Lokale oder klinikspezifische Leitlinien wurden von 85 % der Befragten verwendet. Der Bedarf an nationalen Leitlinien wurde als gering eingeschätzt. Die Autoren schlossen daraus, dass häufige Verwendung von Panoramaröntgenaufnahmen zusammen mit der Anwendung lokaler Leitlinien darauf hindeuten, dass die Auswahlkriterien für Röntgenaufnahmen eben nicht individualisiert sind. Sie fordern nationale Leitlinien, die die Aktualisierung von Röntgentechniken ermöglichen und die Minderung von Strahlendosen und Risiken bei jungen Patienten erleichtern.

Langjährige Diskussion

Seit mehr als 20 Jahren gibt es eine Diskussion über die kieferorthopädische Behandlung, insbesondere zur Indikation kieferorthopädischer Behandlungen sowie zur Evidenz diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Zudem wird bemängelt, dass die Struktur der kieferorthopädischen Versorgung offensichtlich die Überversorgung fördert, z.B. durch Fehlanreize im Vergütungssystem und ein fehlendes Qualitätssicherungssystem (Spassov 2016; Braun und Spassov 2022).

Offensichtlich spielen Faktoren wie Zugang zur Versorgung, Vergütungssystem, fehlende Qualitätssicherungsinstrumente der Kammern und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen und das „Einzelpraxissystem“ eine entscheidende Rolle in der Überversorgung.

Beispiel Gutachtersystem

In der vertragszahnärztlichen Kieferorthopädie sind die Gutachter und die Begutachteten weder anonymisiert noch an verbindliche klinische Leitlinien gebunden. Der Bock wird hier zum Gärtner gemacht, indem die Kieferorthopäden sich „selbst kontrollieren“ – sie sind eine letztinstanzliche Macht, welche lediglich dem jeweiligen Gesundheitsministerium untersteht. Letzteres hat jedoch kaum Möglichkeiten oder den Willen in die „Fachlichkeit“ einzugreifen (Spassov 2016).

Beispiel Röntgendiagnostik

Die Röntgengeräte in Zahnarzt- und Kieferorthopädiepraxen sind meist überaltert. Dies weiss die Zahnärzteschaft. Schon 2015 schrieb Michael Sontag in seinem Artikel „Digitales Röntgen – Gebremster Fortschritt für Patienten und Zahnarzt“: „Die wichtigste Entwicklungslinie im zahnärztlichen Röntgen bleibt die Umstellung von analogem auf digitales Röntgen. Was in der Radiologie bereits als weitgehend abgeschlossen gelten kann, wird die Zahnärzteschaft noch auf Jahre hinaus beschäftigen. Bedingt durch längere Amortisationszeiten der Gerätschaften kommt die Digitalisierung nur noch schleppend voran. Die Digitalisierung bewirkt aber nicht nur einen besseren Praxisworkflow, sondern senkt signifikant die Fehlerquote und bringt für den Patienten auch eine wesentlich geringere Strahlenbelastung. Digitalisierung bedeutet im Röntgen Strahlenschutz, ein Potential, das wir – gerade vor dem Hintergrund ansonsten steigender Strahlenexpositionen in der Medizin – nicht ungenutzt lassen sollten!“

Anstatt bei der Umstellung auf digitales Röntgen Druck zu machen, forderte die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) noch 2020 in Klartext 4/20 der BZÄK den Wegfall der Forderung nach DICOM-Format Versand. Sie schreibt „Seit 01. Januar 2020 wäre die Weitergabe von digitalen Röntgenbildern im DICOM-Format auch für die Zahnmedizin vorgeschrieben. Das Bundesministerium für Umwelt (BMU) hat diese Forderung nun zurückgezogen, denn ältere Röntgengeräte lassen sich nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand umrüsten. Bei diesen bleibt die Bilderweitergabe in anderen Standardformaten (TIF, BMP) zulässig. Bei neueren Geräten ist die Weitergabe als DICOM-Datei zu bevorzugen, da so eine eindeutige Zuordnung der Aufnahmen (Praxis, Patient, Datum) möglich ist. Es bleibt die Verpflichtung aus § 114 Abs. 1 Nr. 2 StrlSchV, dass mit einer Übergangsfrist Röntgengeräte über eine Funktion verfügen müssen, die die zur Ermittlung der Exposition des Patienten erforderlichen Daten elektronisch aufzeichnet und für die Qualitätssicherung nutzbar macht. Bei OPG/FRS- und DVT-Geräten ist diese Forderung bei Anwendung des DICOM-Formats meist gegeben. Für Tubusgeräte und ältere Geräte wird diese Forderung alsbald konkretisiert und mit einer Übergangsfrist bis März 2023 umzusetzen sein.“ Gerade diese älteren Geräte sollten bei Kindern nicht oder nur zurückhaltend eingesetzt werden.

Wenn alle Zähne einmal entwickelt sind, ist Röntgen im Rahmen von Zahnfehlstellungen nur noch selten indiziert. Die Zähne können ganz ohne Strahlung mit einem Laserscanner abgetastet und dreidimensional abgebildet werden. Per Computersimulation können die im Behandlungskonzept geplanten Zahnbewegungen zunächst am virtuellen Modell simuliert werden. Diese dreidimensionale Simulation ermöglicht es dem Behandler vor Beginn der eigentlichen Behandlung am Patienten sein Behandlungskonzept und dessen praktische Umsetzung zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Solange Kieferorthopäden ohne Überprüfung der Indikation mit Röntgenbildern zu Lasten der GKV Geld verdienen dürfen, solange haben es alternative Methoden schwer.

Beispiel Vergütungssystem

Das Einzelleistungsvergütungssystem dominiert in der Kieferorthopädie. Obwohl die Anreize dieses Vergütungssystems bereits bekannt sind, wie etwa die Ausweitung der Leistungsmenge oder das Anbieten von Leistungen mit geringem Zusatznutzen (KOMV 2019), wird am Vergütungssystem und dessen Zusammenhang mit Qualität nicht geforscht. Die bereits erwähnte hkk-Studie (Braun und Spassov A, 2022) hat bereits eindrucksvoll diese Fehlanreize bestätigt: Anstieg der privaten Zuzahlungen sowohl in Quantität als auch in Qualität, obwohl diese kaum einen Zusatznutzen besitzen.

Beispiel „Gewerblich Aligner-Anbieter“

Obwohl die Aligner-Technologie, also die kieferorthopädische Behandlungen mit Schienen statt mit festsitzenden Apparaturen, das Image eines Lifestyle Produkts hat, mit dem vor allem junge Menschen ihr Aussehen verbessern möchten, ist es eine Technologie, die bereits seit über 70 Jahren bekannt ist. Das Image eines Lifestyle Produkts verdankt sie einerseits der massiven und zum Teil aggressiven Werbung einerseits durch Zahnärzte und andererseits durch sog. „Gewerbliche Aligner-Anbieter“ (Spassov und Bettin 2021). 

Aspekte der fehlenden Qualität

Die vom Bundesrechnungshofs angestoßene Diskussion um die Intransparenz der Datenlage zur kieferorthopädischen Versorgung konnte vom Berufsstand relativ erfolgreich „ausgesessen“ bzw. mit Pseudo-Maßnahmen, wie einer Leitlinie zum idealen Zeitpunkt eines Behandlungsbeginnes, verhindert werden (Spiegel, 2019). Allerdings kann diese Diskussion mit dem Aufkommen der gewerblichen Aligner-Anbieter erneut aufflammen, denn es besteht ein grundlegendes Problem, sowohl bezüglich der vertragszahnärztlichen Kieferorthopädie (Kritik des Bundesrechnungshofes) als auch bezüglich der Aligner-Unternehmen (Spassov und Bettin 2021; Anhörung im Gesundheitsausschuss 2021, Spassov und Bettin, 2022): das Fehlen eines zweckmäßigen und sonst in der Medizin üblichen Qualitätssicherungssystems, welches folgende entscheidende Qualitätsaspekte umfasst, analysiert und veröffentlicht:

  1. Die Strukturqualität
  2. Die Prozessqualität
  3. Die Ergebnisqualität

So dürfen nicht nur Fachzahnärzte für Kieferorthopädie, sondern auch Zahnärzte ohne jegliche kieferorthopädische Qualifikation kieferorthopädische Behandlungen durchführen (Strukturqualität). Dies entzieht dem Fachzahnarzt jegliche Existenzgrundlage und bedroht die Behandlungsqualität von Patienten, welche sich einer KFO-Behandlung bei Nicht-Kieferorthopäden unterziehen (ohne dies zu wissen). Ähnliche Defizite bestehen sowohl in der Prozessqualität als auch in der Ergebnisqualität. Für einen Überblick siehe Spassov 2016.

Zusammenfassend lässt sich sagen, das die Gesundheitspolitik vor entscheidenden Fragensteht, welche unter anderem folgendes beinhalten:

  • Wer ist berechtigt und wer sollte berechtigt sein, kieferorthopädische Behandlungen durchzuführen?
  • Wer sollte Anspruch und bei welcher Diagnose eine kieferorthopädische Behandlung erhalten?
  • Welche Ergebnisqualität kann erwartet werden und wie soll diese gemessen werden?
  • Wer ist und wer soll zuständig für die Qualitätsmessung bzw. –monitoring sein.

Diese Fragen betreffen sowohl die klassischen kieferorthopädischen Behandlungsverfahren als auch die Aligner-Technologie, da das Bundesministerium die Auffassung teilt, dass Versicherte bzw. ihre Sorgeberechtigten, eine gute Beratung und eine zuverlässige Informationsgrundlage für eine individualisierte Therapie benötigen. Das Interesse an der Beantwortung dieser Fragen scheint aber auf Seiten der zahnärztlichen  und kieferorthopädischen Fachgesellschaften sowie der Selbstverwaltung (BZÄK, KZBV) nicht groß zu sein, da eine entsprechende Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten, in denen dieses Thema diskutiert wird, nicht angestoßen wurde.

Rahmenbedingungen neu überdenken

An dieser Stelle sollte wahrscheinlich von der Politik zuerst die Zuständigkeit der Kammern bzw. KZVen neu beurteilt werden. Im zweiten Schritt sollte die Politik die Rahmenbedingungen unter denen die kieferorthopädische Versorgung stattfindet in mehreren Punkten reevaluieren:

  1. Verpflichtung des behandelnden Arztes über Aufklärung der verschieden Behandlungsmethoden im Rahmen der Zahnkorrektur gemäß § 630e BGB. Ferner ist in der Behandelnde verpflichtet die Kosten der unterschiedlichen Behandlungsmethoden dem Patienten transparent gemäß § 630c Abs. 3 BGB darzulegen.
  2. Inwieweit erfüllt die Selbstverwaltung ihre Aufgaben der Qualitätssicherung?
  3. Inwieweit erfüllt die Kieferorthopädie die Standards, die sonst in der Medizin üblich sind?
  4. Wer sollte ein Qualitätssicherungssystem in der Kieferorthopädie entwickelt und durchgeführt werden?

 


 

Literatur

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Frank W, Pfaller K, Konta B. Mundgesundheit nach kieferorthopädischer Behandlung mit festsitzenden Apparaten. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) Schriftenreihe Health Technology Assessment, Bd. 66, ISSN: 1864-9645, 1. Auflage 2008

Braun B, Spassov A. Kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Jugendlichen Charakteristika einer Kohorte – Teil 1: Wer wird behandelt? hkk Krankenkasse 2020

Hoffmann A, Krupka S, Seidlitz C, Sussmann S, Sander I, Gothe H. IGES Institut GmbH Kieferorthopädische Behandlungsmaßnahmen. Gutachten für das Bundesministerium für Gesundheit 2018

Bundesrechnungshof. Abschließende Mitteilung an das Bundesministerium für Gesundheit und den GKV-Spitzenverband über die Prüfung der Leistungen für Kieferorthopädie. 

Gz.: IX 1 (IX 4) – 2014 – 0597, 2018

Sontag M. Digitales Röntgen – Gebremster Fortschritt für Patienten und Zahnarzt. IGZ- Die Alternative 2015;3:4-5

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Braun B, Spassov A. Kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Ergebnisse einer Befragung von behandelten Kindern und Jungendlichen sowie ihren Eltern. Hkk-Gesundheitsreport 2021.https://www.hkk.de/fileadmin/dateien/allgemeines_uebergeordnet/reports/gesundheitsreports/hkk_broschuere_kieferorthopaedische_behandlung_a4_web__1_.pdf

Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und Krankenkassen für die kieferorthopädische Behandlung in der Fassung vom 04. Juni 2003 und vom 24. September 2003 veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 226 (S. 24 966) vom 03. Dezember 2003 in Kraft getreten am 1. Januar 2004 https://www.g-ba.de/downloads/62-492-8/RL-Kieferorthopaedie.pdf

Wolf, Tanja. Kritik an Kieferorthopäden. „Wieso dürfen die das?“. Spiegel Gesundheit vom 8.5.2019. https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/zahnspangen-kieferorthopaeden-verordnen-sie-zu-oft-a-1265247.html

Braun B, Spassov A. Kieferorthopädische Behandlung von Kindern und Jugendlichen im Spiegel von Routinedaten (2012-2017). Hkk Gesundheitsreport 2018 https://www.academia.edu/36690627/KieferorthopC3%A4dische_Behandlung_von_Kindern_und_Jugendlichen_im_Spiegel_von_Routinedaten_2012_2017_

Spassov A, Braun B,   Bettin H. Die vertragszahnärztliche Kieferorthopädie – unzweckmäßig, intransparent und paternalistisch. Gesundheit und Soziales. 6/2016

KOMV (2019): Empfehlungen für ein modernes Vergütungssystem in der ambulanten ärztlichen Versorgung. Bericht der Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem – KOMV. Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit.

Spassov A, Bettin H. Politische Maßnahmen gegen „gewerbliche“ Aligner-Anbieter. Dental Tribune 1/2021

Spassov  A, Bettin B.  Die Kammern haben doch ein Durchgriffsrecht. Zahnärztliche Mitteilungen 112, Nr. 10,  2022

Leitlinie evidenzbasierte Gesundheitsinformationen. Evidenzbasierte Leitlinie. Erstellungsdatum 20.02.2017. AWMF. https://www.ebm-netzwerk.de/de/medien/pdf/leitlinie-evidenzbasierte-gesundheitsinformation-fin.pdf

 

Download:

Pressemitteilung-JHC-Mai-2022